Am 1. Mai auf dem Rad zu sitzen, haben wir auch in der Vergangenheit schon immer möglichst vermieden, vor allem wenn das Wetter dem ersten Tag im Wonnemonat so gerecht wird wie heute: da sind uns zu viele angeheiterte Feiertagsradler und -wanderer unterwegs, gerne auch in Horden und mit Bollerwagen, mitunter nur eingeschränkt zurechnungsfähig und nicht immer mit Sinn für Verkehrsregeln. Entspanntes Vorankommen ist da eher schwierig und wir genießen daher einen doppelten Pausetag im sehr schönen Marburg und fühlen uns in der Unistadt an der Lahn fast wie daheim am Neckar:
Eine schöne Altstadt mit kleinen und großen Fachwerkhäusern, viele schön restauriert, ein zu erklimmender, steiler Schlossberg mit Blick auf die Dächer der Stadt, Kirche, Flusstal, Universitätsgebäude und eine kleine Hochhaussiedlung auf dem gegenüberliegenden Hügel, die uns doch sehr an das Tübinger WHO erinnert. Das Landgrafenschloss beherbergt neben dem Universitätsmuseum für Kunst- und Kulturgeschichte auch das größte Winterquartier der Zwergfledermaus in Deutschland (Open Air Veranstaltungen finden im Schlosshof aber trotzdem statt). Die zahlreichen Radfahrer auf den Straßen und Wegen folgen ihren ganz eigenen Verkehrsregeln und verlangen Fußgängern und Autofahrern einige hellseherische Fähigkeiten und schnelles Reaktionsvermögen ab, aber immerhin haben sie nachts Licht am Rad. Und zum Feiertag tummeln sich natürlich ein paar Farben tragende Burschen der Marburger Studentenverbindungen und reichlich Touristen in den engen Gassen und netten Kneipen. Nur die Stocherkähne fehlen, dafür sind auf der Lahn einige Kanuten unterwegs.
Für das vollkommene Heimatgefühl aber sorgten unsere direkten Nachbarn auf dem Campingplatz, die sich nämlich als alte Tübinger Bekannte entpuppten: Helmut, ein ehemaliger FahrRadLaden-Kunde und geschätzter Crêpe-Bäcker vom Tübinger Marktplatz, und seine Frau hatten ihr Wohnmobil direkt neben der Zeltwiese geparkt und versorgten uns am ersten Abend unverhofft mit kühlem Bier, leckerer Lasagne und sehr netter Gesellschaft. Was ein lustiger und erfreulicher Zufall, unverhofft in bekannte Gesichter zu blicken!
Dann hatten wir außerdem die Möglichkeit bei VSF-Kollege Ralf in seinem schönen Fahrradladen Radwerk vorbeizuschauen und bei einem Kaffee über das Leben als Fahrradhändler, die Fahrradbranche und das Radreisen und Wandern zu plaudern.
Ebenso nett war auch die Bekanntschaft mit Gabi und Norbert, die auch auf dem Lahnradweg unterwegs sind, und mit denen wir am zweiten Abend viele interessante Gespräche führten.
Die ungezwungen Begegnungen auf der Zeltwiese gehören neben dem Naturerlebnis auf dem Rad auf jeden Fall zu den schönen Momenten unserer Reise. Es ist erstaunlich wie schnell sich zum Teil aus dem oberflächlichen Austausch über Herkunft, Reisedauer und Reiseziel tiefgreifende Gespräche entwickeln. Auf Reisen kann man sich abends nicht spontan mit Freunden treffen, und kommt dadurch, wenn man sich austauschen möchte, automatisch mit Fremden in Kontakt, die sonst vielleicht in der Kneipe am Nebentisch sitzen würden, ohne dass man mit ihnen je ins Gespräch käme.
Schon in Spanien und Portugal hatten wir mehrere solche Erfahrungen: Randy aus den USA, der uns davon erzählte, dass er sein Haus bei einem der fürchterlichen Waldbrände verloren hat, bei dem außerdem ein guter Freund ums Leben kam, und deswegen die Entscheidung getroffen hat, mit über 70 nochmal zu einer Radreise aufzubrechen, von denen er in seinem Leben schon viele getätigt hat. Ebenso Kerstin aus Deutschland, Don aus Kanada und Oliver aus der Schweiz mit denen wir schnell auf einer Wellenlänge waren und wunderbare Gespräche hatten.
Oder letzte Woche: In Saarbrücken hatten wir einen Pausetag auf dem Kanu-Wanderer-Camping eingelegt, eine kleine Oase für Zelter, in derber Herzlichkeit und erfrischender Direktheit von Carmen geführt, mit der wir uns ausgiebig über verschiedene Lebendsentwürfe, Schicksalsschläge und andere mehr oder weniger bedeutende Fragen des menschlichen Daseins unterhalten haben. Dort lernten wir außerdem Jessica kennen, die nach ihrer Scheidung in den Niederlanden keine bezahlbare Wohnung mehr findet und deswegen die Gelegenheit beim Schopf ergriffen hat, um jetzt erst mal durch Deutschland und die Schweiz nach Italien und von da aus weiter auf die Balkanhalbinsel zu radeln und wieder zurück. Leben im Hier und Jetzt, Chancen ergreifen und zufrieden sein, mit dem was man hat, statt zu lamentieren – es sagt sich immer so leicht und solche Begegnungen sind unglaublich hilfreich dabei, dieses Ziel nicht aus den Augen zu verlieren.
Der initiale Kontakt entsteht dabei in der Regel aufgrund der ähnlichen Art zu reisen und die Welt zu erkunden, die verbindet und anscheinend mit einer gewissen vergleichbaren Offenheit und Grund-Neugier einhergeht. Wobei wir nicht nur Radler sondern auch Reisende mit Wohnmobil und Wohnwagen näher kennen gelernt haben (sowie Nicht-Reisende), wir möchte also nicht sagen, dass man mit dem Rad reisen muss, um ein und interessierter sowie interessanter Mensch zu sein 😉
Es ist einfach ein seltenes Privileg, sich Zeit für solche Begegnungen nehmen zu können und vermutlich trägt auch dazu bei, dass wir während wir tagsüber durch die Landschaft radeln, stundenlang Zeit haben, unsere Gedanken schweifen zu lassen, Zeit die im „normalen“ (Arbeits)alltag praktisch nie ausreichend verfügbar ist. Jedenfalls ist es immer wieder erstaunlich, wie schnell man plötzlich Gespräche mit Fremden führt, die man sonst nur mit Freuden führt, mit denen man seit Jahren vertraut ist.
Wer nach diesem halbphilosophischen Exkurs nun noch Lust hat zu erfahren, was wir in den letzen zwei Wochen, seit denen wir wieder unterwegs sind, erlebt haben, hier eine kurze Zusammenfassung:
Gestartet sind wir – Fernziel Nordnorwegen – quer durch den Nordschwarzwald ins Elsass. Leider begrüßte uns Frankreich fast schon in gewohnter Manier nasskalt und windig (wenn sich das bei nächster Gelegenheit als festes Muster herausstellt, müssen wir unsere Pläne für die Bretagne, Normandie und Provence wohl nochmal überdenken…). An der deutsch-französischen Grenze kämpften wir uns durch Regen und über die Hügel der Nordvogesen und des Pfälzer Wald bis an die Saar. Bis das unfreundliche Aprilwetter ganz hinter uns lag, waren wir schon an der Mosel, ein gutes Stück hinter Trier. Der sehr schöne Radweg bis Koblenz durch die sonnenbeschienenen Weinberge, gekrönt von zahlreichen Burgen und Schlössern und im Tal liegende kleine schmucke Dörfer entschädigte in den nächsten Tagen aber schnell für den wettertechnisch etwas herausfordernden Start – seither gehört die Sonnencreme zumindest bei Meike zum morgendlichen Pflichtprogramm.
Und auch das untere Lahntal muss sich nicht verstecken: Mindestens genau so schlängelig wie die Mosel, enger und etwas wilder, ruhiger und einsamer, Wald statt Wein und auch hier wieder zahlreiche Burgen und Schlösschen. Die zweite Hälfte ab Weilburg war dann nicht mehr ganz so schön, weil die Landschaft um Wetzlar und Gießen offener und weniger interessant ist und der Radweg häufiger an einer stark befahren Bundesstraße führt. Trotzdem können wir nicht klagen: Den ganzen Tag draußen erfahren wir den Frühling besonders intensiv. Nicht nur dass das Grün, gebremst von der langen Trockenheit im März, nach dem Regen und mit der vielen Sonne jetzt um uns herum geradezu explodiert und sich viele Bäume und Wiesen innerhalb weniger Tage in ein Blütenmeer verwandelt haben, auch die Tierwelt ist im Frühlingsrausch. Um 5 Uhr in der Früh setzt ein Vogelkonzert der Extraklasse ein, auf den Weiden toben Lämmer und Kälber, Enten und Gänse sind mit ihren Küken unterwegs und abends fallen schon die ersten Mücken über uns her.
Da in Marburg die Geschäftsstelle des VSF sitzt – das ist der Verbund Service Fahrrad, in dem der FahrRadLaden am Haagtor Mitglied war – treffen wir morgen noch Geschäftsführer Uwe zum Frühstück, bevor wir der Lahn noch ein kleines Stück folgen und dann Richtung Eder/Kellerwald abbiegen. Letztes Jahr hatte uns Marco von Rohloff bei unserem Besuch in Fuldatal den Edersee ans Herz gelegt. Damals sind wir dann aber doch an der Fulda geblieben, so dass wir uns in diesem Jahr auf die Route durch den Kellerwald freuen dürfen. In Kassel werden wir unsere Händler-Kollegen Sandra und Andreas besuchen (natürlich auch VSF-Mitglieder). Dann geht es wohl die Weser rauf, wo Thomas in der alten Heimat Bremen/Delmenhorst mindestens ein Rollo essen muss, bevor es durch Schleswig-Holstein nach Dänemark weiter geht. Dort waren wir bislang noch nicht mit den Rädern unterwegs und sind entsprechend gespannt darauf.